Julius Marx und Freudental

Julius Marx

Julius Marx, der 1888 in Freudental geboren wurde, sagte selbst über sein Leben, es sei von zwei Elementen beherrscht gewesen: „Das Soldatentum bis zum 30. Lebensjahr, die Poeterei bis zum 78. Lebensjahr, also bis heute. Ein Segen, dass es nicht umgekehrt kam.“ [Ludwigsburger Geschichtsblätter 48/1994]. Er wird ein erfolgreicher Geschäftsmann und gleichzeitig Schriftsteller und veröffentlicht Autobiografien, Gedichte und zwei Theaterstücke.

Obwohl Julius Marx in einem traditionell jüdischen Haushalt aufwächst, spielt die Religion nie eine große Rolle in seinem Leben. Umso heftiger trifft ihn die nationalsozialistische Hetze im Deutschland der 30er Jahre.

Julius Marx fühlt sich als deutscher Patriot und kämpft im Ersten Weltkrieg gegen Frankreich. 1917 wird er zum Leutnant befördert und nach Kriegsende mit dem eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet. Seine Kriegserfahrungen verarbeitet er 1930-1939 in seinem „Kriegstagebuch eines Juden“. Diese Eindrücke von Krieg, Staatsmacht, Gewalt und Widerstand finden sich auch im Theaterstück PikAss wieder.

Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg, gründet Julius Marx in Stuttgart die Firma „Autoteile Marx“, mit der er schon bald ein ernstzunehmender Konkurrent von Robert Bosch wird. Im Zuge der antisemitischen Hetze der Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten ist er jedoch gezwungen, seine Firma 1935 weit unter Wert zu verkaufen. Er flieht in die Schweiz nach Zürich, wo seine Schwester und seine Eltern bereits leben.

Julius Marx leistet auf seine ganz eigene Weise Widerstand gegen das NS-Regime. Er unterstützt deutsche Künstler*innen und Schriftsteller*innen, die ebenfalls in die Schweiz emigriert waren, indem er sie an US-amerikanische Filmagenturen vermittelt. Von einem Freund erhält er geheime Informationen aus dem Reichspropagandaministerium, die er an den britischen Geheimdienst weiterleitet.

Julius Marx an das britische Konsulat in Zürich
© PKC Ehemalige Synagoge Freudental
Julius Marx 1955
© PKC Ehemalige Synagoge Freudental
Julius Marx als Soldat 1917
© PKC Ehemalige Synagoge Freudental
Briefkopf von Marx‘ Stuttgarter Firma
© PKC Ehemalige Synagoge Freudental

Julius Marx will nach dem Krieg nicht mehr in Deutschland oder gar Freudental leben, aber er stattet seiner ehemaligen Heimat regelmäßige Besuche ab und bleibt ihr emotional sehr verbunden. So widmet er Freudental das Gedicht „Mein kleines Dorf“ (siehe unten), in welchem er seiner Heimatliebe sowie seiner Verzweiflung über die Vertreibung Ausdruck verleiht. In Zürich gründet er die Firma „Julius Marx AG“, mit der er wieder erfolgreich Autoteile verkauft.

Nach einem vielseitigen Leben verstirbt Julius Marx nach langer Krankheitsphase im Alter von 82 Jahren. Seinem eigenen Wunsch folgend wird er im Oktober 1970 in Freudental beigesetzt; sein Grab ist das jüngste auf dem jüdischen Friedhof.

Lina S., Lea W.

Marx‘ Grabstein auf den jüdischen Friedhof in Freudental
© PKC Ehemalige Synagoge Freudental

Mein kleines Dorf

Ich hört‘ in mancher Stadt
Der Glocken Festgeläute,
Doch nirgends in der weiten Welt
Hört ich so jubelnd ihre Töne klingen,
Konnt mich ihr Zauber auf die Kniee zwingen,
Wie einst zur Abendruh ihr trauter Klang
Daheim in meinem Dorf.

In gar so manches Land
Trug mich der Ruf der Ferne –
Ich sah den schönsten Gottesdom
Mit schlanken Säulen, goldenen Altären
Und Perlgeschmeid aus fernen  Weltenmeeren,
Doch keine Kirche war so schön, wie die
Daheim in meinem Dorf.

Ich hört zu manchem Gott
In vielen Sprachen beten
In Kathedralen und Moscheen –
Ich hörte singen und die Orgel rauschen,
Doch mocht ich keinem Lied so gerne lauschen,
Wie dem der Nachtigall
Beim Rosenstrauch,
Daheim in meinem Dorf

Julius Marx‘ Beerdigung
©PKC Ehemalige Synagoge Freudental

Ich sah gar manchen Fluss
und fuhr durch viele Meere
Auf Schiffen voller Glanz und Pracht –
Da musst ich oft an jenes Schifflein denken,  
Das ich mit kleinen Händen durfte lenken
Entlang dem Weidenbusch
Am kleinen Bach
Daheim in meinem Dorf.

Und sah im Traum das Dorf
Am Waldesrand im Tale –
Mich rief der Kirche Glockenschlag;
Im Wiesengrund hört ich das Bächlein singen,
Es wollt vor Weh mir fast das Herz zerspringen, –
Da trieb’s mich heim zu dir
Mein stilles Tal.
Zu dir, mein kleines Dorf.

Doch wehe mir, – kein  Gruß,
Kein freudiges Erkennen –
Einst Freunde, trennt uns nun das Blut…
In wildem Hass, mit drohender Gebärde
Vertriebt Ihr mich aus meiner Heimaterde.

Ich floh den Bach entlang
Beim Glockenklang –
O Du, mein kleines Dorf!

Julius Marx

Die jüdische Gemeinde in Freudental

Das PKC Ehemalige Synagoge Freudental
©PKC Ehemalige Synagoge Freudental

Das „Judenschlössle“
©PKC Ehemalige Synagoge Freudental
Der jüdische Friedhof in Freudental
©PKC Ehemalige Synagoge Freudental
Misrach-Zeichnung aus der Genisa
©PKC Ehemalige Synagoge Freudental
Ehemalige Synagoge Freudental
©PKC Ehemalige Synagoge Freudental

Freudental ist eine kleine Gemeinde mit 2500 Einwohnerinnen und Einwohnern im Landkreis Ludwigsburg, umgeben von idyllischen Weinbergen. Dort befindet sich das Pädagogisch-Kulturelle Centrum Ehemalige Synagoge Freudental e.V. (PKC), das durch pädagogische, wissenschaftliche und kulturelle Arbeit einen wichtigen Beitrag gegen Antisemitismus leistet. Mit Führungen und Lerntagen für Schulklassen sowie mit Vorträgen und Kulturveranstaltungen sollen demokratische Einstellungen und Verhaltensweisen gefördert und kritisches Denken angeleitet werden. In diesem Kontext entstand auch das gemeinsame Projekt zu dem Theaterstück „PikAss“, das bereits im Schuljahr 19/20 mit einer Theater-AG des Helene-Lange-Gymnasiums begann und im Schuljahr 20/21 mit den 11. Klassen des HLG umgesetzt wurde.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts (1723) erhalten die ersten sechs jüdischen Familien die Erlaubnis, im so genannten „Judenschlössle” zu wohnen. Sie bekommen in einem relativ liberalen Schutzvertrag die Erlaubnis ihre Religion frei auszuleben und eine Synagoge, einen Friedhof und ein jüdisches Frauenbad zu errichten. Im Gegenzug müssen sie jedoch hohe Sondersteuern zahlen.

Im Laufe der Zeit ziehen immer mehr jüdische Familien hinzu, bis um 1860 beinahe die Hälfte der Dorfbevölkerung jüdisch ist. Während die ersten Familien lediglich in der „Judengasse“ (heute Strombergstraße) leben, breitet sich die Gemeinde schnell aus und wird ein bedeutender Teil des Dorfes mit mehreren Gemeinderatsmitgliedern. Nach und nach entwickelt sich Freudental zum Zentrum jüdisch-religiösen Lebens im württembergischen Unterland. 1770 werden die Synagoge und eine jüdische Religionsschule errichtet.
Bald jedoch geht die Zahl der jüdischen Einwohnerinnen und Einwohnern zurück, da es die Emanzipationsgesetze von 1864 für Jüdinnen und Juden erlauben, ihren Wohnort in Württemberg frei zu wählen. Das löst eine große Landflucht in der jüdischen Bevölkerung aus: 1933 lebten nur noch 50 Jüdinnen und Juden in Freudental, das entspricht 8,5 % der Bevölkerung.

Doch auch die gut integrierten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Freudental werden von der NS-Politik nicht verschont. Der Dorflehrer Bauer hetzt seine Schülerinnen und Schüler gegen die jüdische Gemeinde auf und auch die lokale NS-Rundschau veröffentlicht regelmäßig herabwürdigende Artikel über einzelne jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. 1938 wird die Synagoge von SS-Mitgliedern geschändet, die Kultgegenstände und das Mobiliar zertrümmert und verbrannt. 1942 werden die letzten 14 Jüdinnen und Juden vom nationalsozialistischen Regime aus Freudental deportiert und in Konzentrationslagern ermordet. Insgesamt erinnern wir an 34 ermordete Jüdinnen und Juden aus Freudental.

Der jüdische Friedhof in Freudental wird bis 1936 weiter belegt. Fanny Wertheimer wird als letzte begraben. Obwohl die örtliche NS-Vertretung mit Pistole und Kamera drohend im Weg steht, bringt der christliche Landwirt Hermann Hofmann die Jüdin Fanny Wertheimer unter dem Geleit zahlreicher jüdischer und christlicher Mitbürgerinnen und Mitbürger zum Friedhof – ein Beispiel für den Freudentaler Widerstand gegen die NS-Herrschaft.

Nach der Schändung dient die Synagoge der Hitlerjugend als Sporthalle und nach dem Krieg einer Schlosserei als Lager. Um sie vor dem Abriss zu bewahren, gründet sich in den 1970er Jahren ein Förderverein. Bei den Restaurierungsarbeiten werden vom Dachstuhl der Synagoge wertvolle Genisa-Funde geborgen. Eine Genisa ist ein Aufbewahrungsort für heilige Gegenstände im Judentum. Alle Schriften, die den Namen des Herrn beinhalten, werden nicht einfach weggeworfen, wenn man sie nicht mehr benötigt. Sie werden dort aufbewahrt, um später auf dem Friedhof begraben zu werden. Dazu gehören Gebetsriemen, Thorarollen, Thorawimpel und viele weitere Schriften. Diese Gegenstände sind in einer Ausstellung auf der Frauenempore der ehemaligen Synagoge zu sehen.

Das PKC, das sich 1985 aus dem Förderverein gründete, erzählt diese wichtigen Geschichten weiter und lenkt so den Fokus der Jüdinnen und Juden als Opfer der deutschen Geschichte hin zur kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutung des Judentums in Vergangenheit und Gegenwart und zu einem vielseitigen jüdischen Leben in Deutschland, das dieses Jahr 1700 jähriges Jubiläum feiert.

Für weitere Informationen und Hinweise zum Veranstaltungsangebot besuchen Sie gerne die Webseite des PKC.

Lina S., Pia M.